Von Anne Burghard
Co Kim Ha hat Tränen in den Augen. "Vor Glück!", lächelt er. Der 61-jährige Künstler, der nun in Monschau lebt, war 35 Jahre alt, als er wusste: "Ich und wir alle werden sterben – aber dann wenigstens in Freiheit." Das war 1979.
Zusammen mit einer kleinen Gruppe von Flüchtlingen bestieg er ein winziges Ruderboot, um vor dem kommunistischen Terror in Vietnam zu flüchten. Nach einer Woche auf See kam die Rettung: Ein großes Schiff las die Flüchtlinge auf. Es war das Schiff der Deutschen Hilfsorganisation "Cap Anamur".
Cap Anamur-Gründer Rupert Neudeck in seinem Garten in Troisdorf
Der Troisdorfer Journalist Rupert Neudeck hatte nur wenige Monate zuvor die Idee, eine Hilfsorganisation ins Leben zu rufen: "Ein Schiff für Vietnam". Das Ziel: Die Rettung der so genannten "Boatpeople". Tausende Vietnamesen flohen Ende der 1970er Jahre mit winzigen Booten aufs Meer. Viele ertranken, verhungerten oder verdursteten auf der Flucht. Neudeck sammelte in kürzester Zeit Spenden, um ein Schiff anzuheuern, das die Flüchtlinge außer Gefahr bringen sollte.
Rückblick voller Dankbarkeit
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"Dieses Schiff ist ein Geschenk der Deutschen Bevölkerung. Das hat kein Regierungschef und kein Kanzleramt gemacht, sondern das waren insgesamt 15 Millionen Deutsche, die gespendet haben für das Schiff", erinnert sich Neudeck.
Davon mietete er ein großes Frachtschiff: Die Cap Anamur. Damit erhielt die Hilfsorganisation nicht nur ihren Namen, sondern die Chance, vielen Menschen das Leben zu retten. "Wir bauten das Schiff um zu einem Hospitalschiff", berichtet Rupert Neudeck. "Und am 1. August 1979 flog das erste Medizinerteam von Hamburg über den Nordpol nach Kobe in Japan, um von dort aus die Rettungsaktion zu starten."
Hamburg 1986: Hunderte Deutsche jubeln bei der Ankunft Cap Anamur II.
An Bord sind 286 vietnamisische Flüchtlinge.
Hetzjagd der Kommunisten
Vietnam, 30. April 1975: Mit Panzern eroberten nordvietnamesische Truppen die südvietnamesische Hauptstadt Saigon. Der Sieg der Kommunisten war zugleich der Beginn einer Hetzjagd auf potentielle Feinde - allen voran Vietnamesen chinesischer Abstammung, ehemalige Regierungsmitarbeiter, Armeeangehörige und sogenannte Kapitalisten. Verdächtige und Intellektuelle wurden in Umerziehungslagern gefoltert und gequält.
Hunger, Durst und Todesangst
Im Oktober 1979 entschloss sich Künstler Co Kim Ha sich zur Flucht. "Es war Nacht. Wir hatten ein kleines Ruderboot. Die Polizei hätte uns fast erwischt, aber wir sprangen ins Wasser, tauchten unter, und als sie weg war, sind wir aufs Meer rausgefahren." Sogenannte Fluchthelfer nahmen ihm und seinen Freunden alle Wertsachen ab und brachten sie zu einem größeren Boot. "Das war nur 11 Meter lang, aber darauf waren 100 Menschen, eng zusammengepfercht", erinnert sich Co Kim Ha. "Wir hatten nichts zu essen und eine Todesangst davor, zu kentern. Nur wenn es regnete, konnten wir trinken. Wir wrangen unsere Hemden aus und hielten sie uns dabei über den Mund."
Frachter fuhr vorbei
Nach nahezu einer Woche sahen sie ein großes Schiff. Die Menschen riefen, schrien vor Verzweiflung. Sie winkten, versuchten schnell ein Feuer zu entfachen und verbrannten dabei fast das eigene Boot. Doch der Frachter fuhr vorbei. "Ich war sicher, wir würden alle sterben", sagt Co Kim Ha. "Doch dann kam die Cap Anamur!"
Sie wurden bekannt als "Boatpeople". In nussschalenarigen Boten trieben die vietnamesischen Flüchtlinge übers Meer.
Co Kim Ha kann die Tränen nicht mehr zurückhalten: "Wir leben, wir leben! Das war mein erster Gedanke. Ich konnte es kaum glauben. Ich war so dankbar, so glücklich. Und als wir dann in Hamburg ankamen: Das war der Tag unserer zweiten Geburt!"
11.300 Menschen gerettet
Rupert Neudeck war in Deutschland, als er damals ein Telegramm bekam: Menschen gerettet – heil und gesund an Bord. "Wir haben gejubelt und geschrien! Das war der Durchbruch für unsere Aktion!", erzählt Neudeck begeistert. Seine Hilfsorganisation mietete zwei weitere Schiffe an. Insgesamt 11.300 Vietnamflüchtlinge wurden gerettet – und in Deutschland mit offenen Armen empfangen.
Neue Heimat
Der Künstler Co Kim Ha flüchtete mit einem winzigen Boot aus Vietnam und wurde von Cap Anamur gerettet.
Die meisten blieben in Deutschland. "Ich kenne nur zwei, die wieder zurück nach Vietnam gegangen sind. Denn dort sind die politischen Verhältnisse noch nicht so, dass sich die Menschen wieder in ihre Heimat wagen", sagt Neudeck.
Auch der 71-jährige Co Kim Ho hat in Deutschland eine neue Heimat gefunden. Ein Jahr nach seiner Flucht durften seine Frau und seine kleine Tochter zu ihm nach Deutschland kommen. Die Tochter betreibt nun ein Restaurant in Troisdorf und malt mit ihrem Vater berührende Bilder, die an das alte Vietnam erinnern.
Cap Anamur heute
Rupert Neudeck hat sich vor Jahren aus dem Vorstand des Hilfskommitees "Cap Anamur" zurückgezogen. "Da mussten mal Jüngere ran, mir wurde das etwas zu viel", meint der 75-Jährige. Aber er ist froh, dass Cap Anamur unermüdlich weitermacht, um Menschen in Krisengebieten zu helfen. Diesmal aber nicht mit Schiffen, sondern mit ganz neuen Projekten.
Hilfe zur Selbsthilfe
"Wir haben uns das Ziel gesetzt, dass wir nicht Entwicklungshilfe leisten oder Nothilfe leisten und dann wieder verschwinden, sondern dass wir zum Beispiel Krankenhäuser und Schulen so weit wieder herrichten, dass sie funktionieren und dass die Menschen sie später selbst führen können", sagt der heutige Geschäftsführer Bernd Göken. Cap Anamur ist heute vor allem in Afghanistan und in afrikanischen Ländern, wie dem Südsudan, aktiv.
Mit solchen Booten flohen die Menschen aus Vietnam. Dieses hier erinnert als Denkmal in Troisdorf an ihre Rettung.
NDR:
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